Wir möchten Sie auf drei wichtige Publikationen im Zusammenhang mit der Abstimmung über die sogenannte Selbstbestimmungs- Initiative vom 25. November hinweisen. Alt-Bundesrichter Niccolò Raselli hat drei sehr verständliche Kurzartikel geschrieben.
Die sog. Selbstbestimmungsinitiative – eine SELBSTENTMACHTUNGSinitiative
Die Initianten beschwören mit ihrer Initiative die Selbstbestimmung. Ihre Annahme würde in Tat und Wahrheit die Souveränität, Handlungsfähigkeit und Verhandlungsmacht der Eidgenossenschaft als internationaler Vertragspartner empfindlich schwächen. Die Folgen wären unabsehbar, nicht nur für die Stellung der Schweiz im internationalen Kontext, sondern auch hinsichtlich allfälliger Gegenmassnahmen.
Für den Kleinstaat Schweiz, dessen Volkswirtschaft in die Weltwirtschaft integriert ist, ist die Verbindlichkeit des Völkerrechts lebenswichtig. Unternehmen brauchen Rechtssicherheit, Stabilität und einen offenen Zugang zu den Märkten der Welt. Sie sind auf das Vertrauen in unseren Standort angewiesen. Durch eine Vielzahl ausgehandelter Abkommen kann sich die Schweiz als Exportnation international behaupten und ihre Interessen auf dem Rechtsweg durchsetzen. Davon betroffen wären nicht bloss Verträge mit der Europäischen Union (EU) wie etwa das Freizügigkeitsabkommen, sondern auch Hunderte von bilateralen Wirtschaftsverträgen, darunter das Freihandelsabkommen mit China, aber auch über 130 Investitionsschutzabkommen.
Die Initiative würde die Verbindlichkeit solcher Verträge einseitig ausser Kraft setzen, weshalb sie einem institutionalisierten Vertragsbruch gleichkommt. Vertragspartner der Schweiz könnten im Falle der Annahme der Initiative nicht mehr auf Vertragstreue zählen. Die von der Schweiz abgeschlossenen Verträge stünden unter einem Dauervorbehalt. Die Schweiz würde sich als Vertragspartner international selbst ins Abseits stellen und verlöre ihren Ruf als verlässlicher Vertragspartner.
Hinzu kommt, dass mit einer Annahme der Initiative namentlich Investitionsschutzabkommen gekündigt werden müssten, zumal deren Neuverhandlung illusorisch wäre. Zahlreiche dieser Abkommen sehen nämlich bei Enteignungen nur eine angemessene, jedoch keine volle Entschädigung vor und stehen daher im Widerspruch zu unserer Bundesverfassung. Der Investitionsschutz dient dazu, private Investitionen, die im Ausland getätigt werden, staatsvertraglich vor nicht kommerziellen Risiken zu schützen (z.B. vor entschädigungslosen Enteignungen). Man sich leicht vergegenwärtigen, was die Kündigung dieser Verträge für unsere Wirtschaft und unsere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, aber auch für unsere Vertrauenswürdigkeit als Vertragspartner bedeuten würde.
Die Selbstbestimmungsinitiative würde die Grundlagen des schweizerischen Wohlstands aufs Spiel setzen. Sie ist in Wirklichkeit eine SELBSTENTMACHTUNGSinitiative.
Was wir dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verdanken
Die Initianten der Selbstbestimmungsinitiative wollen die Europäische Menschenrechts- konvention (EMRK) kündigen. Für sie ist die EMRK des Teufels und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Eiterbeule (so SVP Nationalrat Alfred Heer). Eine sachliche Auseinandersetzung mit den unser Land betreffenden Urteilen sucht man jedoch vergebens. Die xenophobe Polemik gegen „fremde Richter“ blendet aus, dass kein Urteil ohne die Mitwirkung eines Schweizer Bürgers oder Schweizer Bürgerin ergeht. Die Initianten verschweigen, was alles wir der Rechtsprechung des Gerichtshofs verdanken:
Abschaffung der Verdachtsstrafe
Bis in die 80er-Jahre pflegten die Gerichte Personen, obwohl das Strafverfahren gegen sie eingestellt wurde und sie als unschuldig galten, wegen „leichtfertigen Verhaltens“ Verfahrenskosten aufzuerlegen, wenn immer sie glaubten, doch noch ein Haar in der Suppe zu finden. Die Betroffenen empfanden das zu Recht als verkappte Verurteilung. Erst nachdem der EGMR 1983 darin ein Verletzung der Unschuldsvermutung erblickt hatte (Fall Minelli), sahen unsere Gerichte von dieser Verdachtsstrafe ab.
Recht auf unabhängige Richter
Bis Ende der 80er-Jahre amteten in den meisten Kantonen die eine Strafuntersuchung führenden Beamten auch als Richter: Untersuchung, Anklage und richterliche Beurteilung lagen in einer Hand. Vergeblich hatten Lehre und Anwaltschaft kritisiert, dass das mit der richterlichen Unabhängigkeit nicht vereinbar ist. Es brauchte das Machtwort aus Strassburg, um dem Missstand abzuhelfen: 1988 entschied der EGMR, dass ein Untersuchungsbeamter kein unbefangener Richter sein kann (Fall Belilos). Daraufhin verlangte der Urner Ständerat Danioth, wenn auch vergeblich, die Kündigung der EMRK. Heute könnte man sich die frühere Rechtslage nicht mehr vorstellen.
Keine Entscheidung hinter dem Rücken der Betroffenen.
Bis zur Jahrtausendwende weigerten sich schweizerische Gerichte, Beschwerdeführern die Beschwerdeantwort der Vorinstanz zur Kenntnis zu bringen, sogar wenn erst in der Antwort der angefochtene Entscheid ausführlich begründet wird. Im Jahr 2002 kritisierte der EGMR dieses Vorgehen als unfair und stellte eine Verletzung der EMRK fest (Fall Ziegler). Heute ist die Zustellung der Beschwerdeantwort, damit sich der Beschwerdeführer überhaupt zur Wehr setzen kann, „courant normal“ und man versteht nicht, warum das nicht schon immer so war.
Untersuchungshäftlinge haben Anspruch auf unabhängige Haftrichter
Bis Ende der 80er-Jahre war es in der Schweiz üblich, dass der Untersuchungsbeamte die Untersuchungshaft anordnete, auch wenn er später die Anklage vertrat und infolgedessen nicht unabhängig war. Seit der EGMR im Jahr 1990 darin eine Verletzung des Anspruchs auf einen unabhängigen Richter erblickt hat, werden festgenommene Personen unverzüglich einem unabhängigen Richter vorgeführt, der die Anordnung der Haft überprüft (Fall Huber).
Faires Verfahren auch für Asbestopfer
Bis vor kurzem hatten Opfer keine Chancen, wenn ein Spätschaden erst nach der kurzen Verjährungsfrist bekannt wurde. Der Gesetzgeber war sich dessen zwar bewusst, blieb aber untätig. Obwohl seit Mitte der 60er-Jahre bekannt war, dass Asbeststaub krebserregend ist, waren die Arbeiter ungenügend geschützt. 2004 erkrankte der Arbeiter Moor an Brustfellkrebs. Alle schweizerischen Gerichtsinstanzen wiesen die Klage ab, weil die Ansprüche bereits 1988 verjährt seien. Im Jahr 2014 entschied der EGMR , dass die äusserst kurze Verjährungsregel bei Schäden, die erst Jahrzehnte nach dem schädigenden Ereignis erkennbar werden, das Recht auf ein faires Verfahren verletzt (Fall Moor). Dank dieser Entscheidung wurde eine menschenverachtende Gesetzesregelung zu Makulatur.
Mit diesen Entscheiden wurden dank der EMRK und des EGMR unsere demokratischen Ansprüche, ja unsere Freiheit gestärkt.
«Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungsinitiative)»
– ein Etikettenschwindel
Die Selbstbestimmungsinitiative richtet sich nur scheinbar gegen sogenannte „fremde Richter“. Die Etikette „fremde Richter“ dient lediglich als xenophober Beschleuniger. In Wirklichkeit gilt der Kampf der eignen Justiz, der Dritten Gewalt. Christoph Blocher und seine SVP möchten diese am liebsten durch Volksentscheide ersetzen, wie das bei der massiv verworfenen Durchsetzungsinitiative der Fall gewesen wäre. Mit der deutlichen Verwerfung der Initiative hat das Volk der Entmachtung der Justiz einen Riegel geschoben. Mit der sog. Selbstbestimmungs- initiative möchten Christoph Blocher und seine SVP dieses Resultat rückgängig machen.
Wenn Christoph Blocher ein Urteil des Bundesgerichtes nicht passt, attackiert er die Institution als solche und schreckt nicht davor zurück, das Bundesgericht eines Staatsstreiches zu bezichtigen (so in der NZZ vom 6. März 2013). Ähnlich dem die Justiz verhöhnenden italienischen Innenminister Salvini. Und wehe dem Richter, zumal einem von der SVP portierten, der eine vom SVP-Mainstream abweichende Meinung vertritt. Hier enden Gewaltenteilung und richterliche Unabhängigkeit. So geschehen bei SVP-Bundesrichter Yves Donzallaz. Es begann im Oktober 2017 mit einer von SVP-Nationalrat Roger Köppels Weltwoche orchestrierten Attacke: Bundesrichter Donzallaz wurde als einer der „grössten Internationalisten“ (Synonym des vaterlandslosen Gesellen) diffamiert. Ihm wurde vorgeworfen, mehrere Urteile mitverantwortet zu haben, die der Haltung der SVP diametral zuwiderliefen. Nach Erscheinen des Artikels wurde Bundesrichter Donzallaz prompt von der Partei nach Bern zitiert. Nachdem er allerdings erfahren hatte, welchem Zweck die Vorladung dienen sollte, weigerte er sich, dieser nachzukommen. Chapeau!